Global grassierende Infektionskrankheiten wie das Coronavirus SARS-CoV-2 zeigen den Irrweg einer ungezügelten Globalisierung. Da fehlen in Europa Schutzmasken und Desinfektionsmittel, weil deren Produktion auf wenige Firmen in Asien konzentriert ist. Schon in normalen Zeiten stehen Bänder still, wenn streikende Lastwagenfahrer einen Gebirgspass absperren. Woher kommt diese extreme Empfindlichkeit unserer Wirtschaft?
Die Mär vom komparativen Kostenvorteil
1817 stellt der britische Ökonom David Ricardo eine neue Wirtschaftstheorie auf. Jedes Land solle sich bei der Produktion von Waren auf die Güter spezialisieren, die es im Vergleich zu anderen günstiger erzeugen kann (compare - vergleichen). Freier Handel zwischen allen Ländern schaffe die größten Wohlfahrtsgewinne.
Ricardos Theorie wurde in der Folge zur Grundlage des gesamten Welthandels. Noch heute lernen angehende Volkswirtschaftler das Beispiel von der Einigung Englands und Portugals über die Produktion von Tuchen und Rotwein. Der Nutzen des freien Handels für alle ist seit 200 Jahren der wichtigste Glaubenssatz der Wirtschaftspolitik. Seine Nachteile treten aber gerade jetzt deutlich zu Tage.
- Wirtschaftlich schwächere Länder erlangen im Wettbewerb mit robusten Volkswirtschaften viel weniger Produktionsnischen, als es ihren natürlichen Bedingungen eigentlich entspräche.
- Starke Länder gewähren oft Exportsubventionen, um die Überschüsse ihrer Unternehmen abzusetzen.
- Die Umweltbelastungen durch intensive Transportvorgänge bleiben außer Acht.
- Weniger mächtige Staaten sind der Blockade von Handelswegen bei politischen Konflikten oft hilflos ausgeliefert.
- In Notfällen ist die sichere Versorgung mit Gütern nicht mehr gewährleistet!
Das Rad des Kapitalismus hat sich zu weit gedreht. Was anfangs vernünftig war wird durch Übertreibung zur Gefahr. Ungesteuerter Kapitalismus führt zwangsläufig zu immer mehr Zusammenballungen, Zentralisierungen und Monopolen. Das wurde in den letzten Jahrzehnten von der Politik noch befördert. Ab 1980 entstand in den USA der Neoliberalismus, der staatliche Regeln immer mehr zurückdrängte. Zeitgleich stellte in China Deng Xiaoping die Planwirtschaft auf staatlichen Kapitalismus um. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus 1990 gab es für die Globalisierung im Vollgefühl des Sieges kein Halten mehr. 2008 mussten dann zahlreiche Banken mit Steuergeldern gerettet werden. Erst da entstand wieder die Einsicht, dass der Markt eine Wertordnung und Regeln braucht. Wo wären die zu finden?
Zellenartiges Wirtschaften
Die Evolution gibt uns seit der Entstehung des Lebens auf der Erde vor 3,5 Milliarden Jahren eine überzeugende Antwort.
Die Zellen aller Lebewesen stellen eigenständige und selbsterhaltende Systeme dar. Sie können Nährstoffe aufnehmen, die darin gebundene Energie durch Stoffwechsel nutzbar machen, sich bewegen, teilen und vermehren. Zahlreiche Lebensvorgänge laufen also selbständig in der Zelle ab. Nach außen hat jede eine Membran, die sie von ihrer Umgebung abgrenzt. Diese Zellwände sind nur für bestimmte Stoffe und Informationen durchlässig (semipermeabel), aber doch mit dem Gesamtorganismus verbunden.
Netzwerke in der Natur kontra Netzwerk Welthandel
Das gleiche Prinzip finden wir im Geflecht des Lebens von Pflanzen und Tieren in naturnahen Ökosystemen wie Wäldern und Seeufern. Netzwerke in der Natur sind durch das Zusammenspiel selbständiger Untereinheiten in einem Gesamtgefüge gekennzeichnet. Ein großer Teil der Lebensvorgänge läuft in den kleinen Knoten mit dichteren Beziehungen eigenständig ab.
Im Wirtschaftsleben der Menschen wirken die gleichen Systemkräfte. Auch das globale Wirtschaftssystem wird umso stabiler, je mehr regionale Wirtschaftskreisläufe in ihm zirkulieren. Das können regionale Firmen sein, Dörfer, Stadtteile oder gewachsene Wirtschaftsregionen, in denen sich die Akteure noch persönlich kennen.
Das Netz des Welthandels sieht jedoch ganz anders aus. Es gibt unzählige Direktverbindungen zu den entferntesten Punkten der Erde, aber keine stabilisierenden Knoten, kaum Nahbeziehungen. Daher kommt die große Störanfälligkeit dieses Systems. Matthias Horx drückt das so aus: "Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, haben sich überlebt. Überall wachsen wieder Zwischenlager, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen. Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Eine Lokalisierung des Globalen." (www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/)
Handel ist gut. Er führt zu Begegnungen, bringt neue Ideen und schafft so Wohlstand. Er muss aber in eine Wertordnung eingebunden sein. Die Soziale Marktwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland war eine solche Wertordnung. Sie wurde jedoch in der Globalisierung der 90er Jahre weggespült. Wir brauchen eine neue Ordnung der Weltwirtschaft,
- die sich innerhalb der naturverträglichen Grenzen bewegt,
- die auf vielen eigenständigen Zellen mit regionalen Wirtschaftskreisläufen aufbaut,
- die Freiheit und Gerechtigkeit sorgsam ausbalanciert,
- die eine sichere Versorgung mit Gütern gewährleistet.
Spannend sind zu diesem Thema zwei aktuelle Bücher:
Der Kulturgeograph Werner Bätzing plädiert für eine eigenständige ländliche Kultur mit regionalen Wirtschaftskreisläufen, die auf Unverwechselbarkeit und Qualität setzen.
Der Historiker Kyle Harper beschreibt die Rolle von Infektionsepidemien und Klimaveränderungen für den Untergang des Römischen Reiches: „Die weitverzweigten Handelsbeziehungen waren die verhängnisvollste Komponente.“